Gesellschaft für außergewöhnliche Ideen

Eine Brücke hat etwas Verbindendes


Von Frau zu Frau

Marianne Schreck,
die Frau des Brückenbauers,
schreibt an Angelika Merkel einen offenen Brief:
 

Frau Bundeskanzlerin

Dr. Angelika Merkel

Bundeskanzleramt                                 

Schlossplatz 1

10178 Berlin

Betr.: Die Nützlichkeit der Risse in den Spannbetonbrücken nach dem deutschen Sonderweg, eine sensationelle Entdeckung deutscher Wissenschaftler, die erstmals auf dem Deutschen Betontag 1975 verkündet, aber bis jetzt noch nicht gebührend gewürdigt wurde
 

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

Professor Fritz Leonhardt, in Politkreisen bestens bekannt als Berater für Brückenbau im Verkehrsministerium, aber auch für das Parlament und den Bundesrechnungshof,  verkündete auf dem deutschen Betontag 1975 die sensationelle Entdeckung, dass die Risse in den deutschen Spannbetonbrücken zwar unvermeidlich, aber gleichzeitig unschädlich sind, weil man sie mit schlaffer Bewehrung dauerhaft auf eine unschädliche Breite beschränken kann. Die deutsche Bauindustrie vernahm diese Botschaft mit Freuden und verlieh Professor Leonhardt wenig später den Ehrentitel „Brückenpapst“.[1]

Der Weg dorthin war lang und mühsam gewesen. Fast ein volles Vierteljahrhundert lang hatte man die Risse in en Brücken schamhaft verschwiegen oder sie – wo dies nicht möglich war – mit Pfusch am Bau oder schlechtem Beton begründet. Das hatte seinen Grund vor allem darin, dass der Spannbeton gerade dazu erfunden worden war, um Risse im Beton auszuschalten und sein Erfinder, Eugene Freyssinet, schon vor und während des Krieges vorgeführt hatte – und zwar ausgerechnet in Deutschland – wie die Sache funktioniert. Ein weiterer Grund war, dass die deutsche Spannbetonvorschrift DIN 4227 seit 1953 ein dauerhaft rissefreies Bauwerk vorschrieb. Die zulässigen Zugspannungen waren so begrenzt, dass keine Risse auftreten konnten; Bauteile, bei denen diese Zugspannungen überschritten wurden, durften nicht Spannbeton genannt werden.

Im Jahre 1959 begannen die Baubehörden sogar, die Risse mittels Gipsmarken und Datumsangabe argwöhnisch zu beobachten (gemäß Überwachungsvorschrift DIN 1076), und ab 1965 versuchten sie, die Risse mit Epoxidharz zu vertreiben, was Risse-Sanierung hieß, später auch mit dem Einbau zusätzlicher Spannglieder, was Ertüchtigung oder Verstärkung genannt wurde und sehr teuer war. Doch die Risse überstanden alle diese Attacken glorreich.

Schon ein Jahr nach dem Betontag 1975 wurde die neue Lehre vertieft, mit einer vom BMV in Auftrag gegebenen Studie über die Auswirkungen von Temperaturunterschieden infolge Sonnenbestrahlung bei Brücken mit dem statischen System des Durchlaufträgers, neben vergleichsweise dicken Betonquerschnitten das zweite Merkmal des deutschen Sonderwegs im Spannbetonbrückenbau. Die These Leonhardts von der Unvermeidbarkeit der Risse in den deutschen Brücken wurde mit dieser Studie glänzend bestätigt. Sie ergab, dass sich bei den Spannungen „Werte ergeben, die weit über der Biegezugfestigkeit des Betons liegen und dadurch Risse hervorrufen“. Doch unmittelbar nach dieser Erkenntnis gelang dem Autor der Studie folgende Entdeckung: „Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die aus Temperaturdifferenzen resultierenden Beanspruchungen nicht für die Sicherheit des Bauwerks von Bedeutung sind, da sie sich nach Auftreten von Rissen sehr schnell abbauen.“ [2]

Hier ist anzumerken, dass Professor Leonhardt seine Aussage von 1975, Risse ließen sich mit schlaffer Bewehrung dauerhaft auf eine unschädliche Breite beschränken, 1979 unter Berufung auf seine Gutachtertätigkeit „in mehr als 100 Fällen“, wieder zurücknahm (Leonhardt, Riss-Schäden an Betonbrücken, Beton-und Stahlbetonbau Heft 2/1979, Seite 36-44). Doch inzwischen war die „Rissebeschränkung“ ohnehin irrelevant geworden, weil 1976 der Riss an sich, d.h. ohne jede Beschränkung, als Heilmittel gegen zu hohe Zugspannung entdeckt worden war.

Die im Spannbetonbrückenbau Tätigen waren über diese neueste wissenschaftliche Entdeckung so glücklich, dass sie sofort die Herausgabe behördlicher Verordnungen veranlassten, mit denen sichergestellt wurde, dass alle Brücken mit den nützlichen Rissen ausgestattet wurden. Die ZTV-K 76 schrieb die dicken Betonquerschnitte vor, von denen es seit 1953 Stand des Wissens war, dass die Hydratationswärme (= die Wärme, die der Beton beim Erhärten freisetzt) gleich nach dem Betonieren Risse erzeugt. Die EBK 76, später gefolgt von der RA-Stb 82, forderte für alle mehrfeldrigen Brücken das System des Durchlaufträgers, das – wie oben dargelegt – Risse aus Sonnenbestrahlung garantiert. Die Baubehörden ordnenten – ebenfalls im Jahre 1976 – die Untersuchung aller Spannbetonbrücken auf Risse hin an. Damit wollte man sich überzeugen, ob auch alle Brücken mit den nützlichen Rissen ausgestattet waren. Schweres Gerät mit einem Stückpreis von 1 Mio DM wurde angeschafft, um auch die Unterseiten der Brücken kontrollieren zu können. Im Jahre 1985 wurde deshalb sogar die Lastvorschrift, die Brückenklasse 60 (t), auf 60/30 t angehoben. Für jede Brücke mussten Rissezeichnungen angefertigt werden.

In der allgemeinen Euphorie vergaß man völlig, die Spannbetonvorschrift DIN 4227 den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen anzugleichen. Hierfür war seit 1975 das DIN (Deutsches Institut für Normung) zuständig, das unmittelbar nach dem denkwürdigen Deutschen Betontag 1975 gegründet worden war. Mit Vertrag vom 5. Juni 1975 war ihm von der Regierung Schmidt die „Erarbeitung der in Deutschland zu beachtenden technischen Regeln“ übertragen worden (DIN Grundsätze Normung). Die DIN 4227 blieb volle 30 Jahre lang weiterhin die Grundlage für alle Verträge für Brückenneubauten in Spannbeton. Das bedeutet, die Brücken wurden drei Jahrzehnte lang nach einer Vorschrift gebaut, die die Spannungen so eng begrenzte, dass keine Risse auftreten können, aber mit Bauweisen, bei denen diese Spannungsgrenze garantiert nicht eingehalten werden kann. Erst mit Wirkung vom 1.1.2005 machte das DIN tabula rasa. Die DIN 4227 wurde kurzerhand liquidiert und der Spannbeton in der DIN 1045-1 mit dem Stahlbeton gleichgestellt. Damit entfiel endlich die lästige Ermittlung der Spannungen und Risse waren zulässig. Das hatte den Vorteil, dass die Spannbetonbrücken mit den vorteilhaften Rissen, die gemäß DIN 4227 vorschriftswidrig waren, mit einem Schlag in vorschriftsgerechte Brücken verwandelt wurden.

Neun Jahre nach der Entdeckung, dass Risse als Heilmittel gegen zu hohe Zugspannungen zu begreifen seien, knüpfte der Deutsche Ausschuss für Stahlbeton, der auch für den Spannbeton zuständig ist, wieder an diese Erkenntnis an. In seiner Jahresversammlung 1985 forderte er dazu auf, Risse „als Freunde zu begreifen, weil sie die Zugspannungen abbauen“. (Jahresmitteilung 1985 Deutscher Ausschuss für Stahlbeton)

Entschieden bedeutender jedoch war die Erkenntnis des Deutschen Beton-Vereins aus dem Jahre 1986. Er hatte herausgefunden, dass Risse als Einsturz-Frühwarn-System überaus nützlich seien. In seinem Merkblatt, Ausgabe April 1986, Seite 4, teilt er mit: „Eine planmäßige, begrenzte Rissbildung ist aus sicherheitstheoretischen Gründen sogar erwünscht zur Vorankündigung eines eventuellen Querschnittsversagens.“ (Querschnittsversagen = Einsturz)

Acht Jahre später macht sich die Regierung Kohl diese phänomenale Erkenntnis zunutze, indem sie plant, „10.000 Betonbrücken aus der Nachkriegszeit“  mit „kontinuierlich und vollautomatisch arbeitenden Sicherungssystemen“ auszustatten, deren Entwicklung bei der BAM in Auftrag gegeben wurde. Konkret bedeutet dies, dass an jedem Riss ein Computer angebracht werden sollte, der die Veränderungen der Rissbreiten rund um die Uhr weitermeldet. Inzwischen hatten die Baubehörden nämlich herausgefunden, dass die Risse keineswegs untätig sind, sondern sich bei jedem verkehrsbedingten Lastwechsel und bei Sonnenbestrahlung in ihrer Breite verändern. Dies wurde dokumentiert in der Risse-Reparatur-Verordnung des BMV ZTV-Riss 88. (Die oben zitierten Textstellen stammen aus dem Beitrag „Sicherungssysteme – Computer überwachen baufällige Brücken“, Süddeutscher und Bayerischer Rundfunk, 11.9. und 18.12.1994)

Leider hat der Rest der Welt die epochale Entdeckung deutscher Brückenbauer bis jetzt nicht angenommen. Seit mehr als 30 Jahren hält die Menschheit störrisch an der Vorstellung fest, dass Risse in jedweder Konstruktion und jedwedem Material Schäden seien, die Zerstörung und Verfall signalisierten – auch in Deutschland. Alle paar Wochen berichten die Medien über Risse, die irgendwo entdeckt wurden und zu ernsthaften Konsequenzen führten. Über einen der jüngsten Fälle informierte die Süddeutsche Zeitung vom 10.11.2006 in ihrer Landkreisausgabe München. An den Stahlträgern, welche die Glaskuppel der Arena im sogenannten Ballhausforum in Unterschleißheim halten, „sind Anzeichen von Rissen festgestellt worden“. – „Die Risse sind zumindest so, dass man nicht mehr sagen kann, die Standfestigkeit ist gewährleistet.“ So lautete der Befund der Baurechtsabteilung im Landratsamt. Die Arena, die erst vor einem halben Jahr in Betrieb genommen worden war, wurde sofort geschlossen.

Betrüblicherweise gab es auch, was die Risse in den deutschen Spannbetonbrücken betrifft, einige Abweichler, So strengte das Land Hessen 1978, also drei Jahre nach der Entdeckung der unschädlichen, und zwei Jahre nach Entdeckung der nützlichen Risse, einen Prozess an wegen der Risse in der Blasbachtalbrücke. Merkwürdigerweise erwähnte keiner der Prozessbeteiligten die neue Lehre, die andernorts bereits fest etabliert war. Nur die Beklagten wandten ein, dass alle deutschen Spannbetonbrücken Risse aufwiesen und diese gar nicht zu vermeiden seien. Doch das nahmen die Richter gar nicht ernst. Denn die Klägerin und der Sachverständige, der bereits erwähnte Professor König, definierten die Risse übereinstimmend als Mängel, weil „infolge des in die Risse eindringenden Wassers die eingelegte Spannbewehrung leichter und schneller (korrodiert)“ und „die Zerstörung der Bewehrung zuletzt zum Einsturz der Brücke (führt)“. (Urteil des OLG Frankfurt vom 27.5.1981, Seite 7 und 21, AZ 17 U 82/80, BGH). Die Richter stellen deshalb in ihrer Urteilsbegründung fest: „Selbstverständlich sind die Vertragsparteien davon ausgegangen, dass die Beklagten eine Brücke ohne Risse erstellen.“ (Seite 16). Das Urteil wurde im Oktober 1982 mit der Zurückweisung der Revision durch den BGH rechtskräftig.

Zwei Jahre später gibt der Bundesminister für Forschung und Technologie die „Risikostudie Talbrücken“ heraus. Hier steht in Teil A, Seite 5.18 lapidar: „Typische Dauerhaftigkeitsschäden, die die Lebensdauer verringern, sind Risse und `Materialumwandlungen´, bei Stahl Korrosionen.“ Eines der Kriterien für die Zuordnung zu den Schadensklassen ist die Rissbreite. Hierzu wird auf Seite 9.18f. des Teils A angemerkt: „Weiterhin ist zu der Einteilung der Schadensklassen, insbesondere zu der nach oben offenen Skala der Klassen, zu betonen, dass in Verbindung mit dem Kostenmodell auch eine Quantifizierung von Menschenleben impliziert ist. Die Problematik dieses Sachverhaltes ist bekannt, lässt sich aber nicht umgehen.“

Ganz anders indes verhielt sich das Bundesministerium für Verkehr. Es stand stets in Treue fest zu den Entdeckern der unschädlichen und darüber hinaus so nützlichen Rissen. Wer immer Fragen zum Zustand der Spannbetonbrücken stellte, erhielt die Auskunft, dass die Brücken keine Risse haben, die ihre Sicherheit und Dauerhaftigkeit beeinträchtigen könnten. So antwortete auch das Eisenbahnbundesamt auf Anfragen zum Zustand der Brücken an den ICE-Strecken. Als deren Bau etwa um das Jahr 1981 begann, sorgte das BMV dafür, dass auch sie mit den nützlichen Rissen ausgestattet wurden. Alle Brücken wurden mit dem Hohlkastenquerschnitt ausgeführt, der die höchsten Temperaturdifferenzen aus der ungleich und zu langsam entweichenden Hydratationswärme erhält und garantiert reißt, was seit 1953 Stand des Wissens ist (R. Bührer, Eisenbahnbrücken aus Spannbeton, Deutscher Ausschuss für Stahlbeton, Heft 112/1953)

Um das Jahr 1980 begann eine Entwicklung, wie man sie sich tragischer nicht hätte vorstellen können. Gerade als sich die Lehre von den unschädlichen und hilfreichen Rissen in den deutschen Spannbrücken in den Köpfen der Fachwelt einigermaßen festgesetzt hatte, begannen die Brücken zu kränkeln. Dies veranlasste MinRat Standfuß, Brückenreferent im BMV, auf dem Deutschen Betontag 1981 zu einem Vortrag mit dem Titel „Die Erhaltung von Straßenbrücken – eine vordringliche Aufgabe der Straßenbauverwaltung“ (veröffentl. in Beton- und Stahlbetonbau, Heft 11/1981). Hier sagte er u.a. ; „Wir kennen zwar die meisten Krankheiten unserer Patienten, in ihrer ganzen Tragweite allerdings erst, wenn wir sie öffnen. Doch im Gebrauch der richtigen Medikamente fehlt uns noch die Übung.“ Welcher Art die Krankheiten der Patienten waren und an welchen Symptomen die Baubehörden sie diagnostiziert hatten, teilte Herr Standfuß nicht mit. Am Ende seines Vortrags findet sich eine Passage, in der – verklausiliert zwar, aber doch unschwer zu erkennen – ein Brückenalter von 50 Jahren angedeutet wird.  Da war der Sachverständige im Blasbachtalbrückenprozess erheblich deutlicher. Im Urteil des OLG  Frankfurt, das fast gleichzeitig mit dem Betontag 1981 erging, heißt es: „Ohne Sanierungsmaßnahmen würde die Brücke die für Brücken dieser Art übliche Lebens- und Benutzungsdauer von ca. 50 Jahren nicht erreichen.“ (Urteil, S. 21). Ein Jahr später zog Professor Specht, TU Berlin, für den Tausalzbereich mit „30 Jahren, in Einzelfällen auch weniger“ nach. (Specht, Gedanken über die Dauerhaftigkeit von Betonbauten....., Beton- und Stahlbetonbau, Heft 5/1982, S. 121 – 126)

Ein Brückenalter zwischen 30 und maximal 50 Jahren veranlasste die Regierung Kohl, die 1982 „an die Macht“ gekommen war, offensichtlich zu Überlegungen, was dies in absehbarer Zeit für die Funktionsfähigkeit der deutschen Verkehrswege bedeutet. Sie entschloss sich, Tausende von Brücken im Zeitraum von 1986 bis 2000 zu „erneuern“, was ein Synonym für Abriss und Neubau ist. Hierfür wurden 50 Mrd. DM veranschlagt. (s. Straßenbaubericht des BMV, 1988, S. 13) Die Firma Krupp erhielt den Auftrag, Stahlhilfsbrücken zu bauen, die SS 80 genannt wurden, und die Presse beeilte sich, die „Rund-um-die-Uhr-Baustelle“ zu propagieren.

Aus der Sache wurde nichts, auch wenn Baudirektor Beck vom Landschafts – Verband Westfalen Lippe sie in der ZEIT vom 16.7.1993 noch einmal aufleben ließ. Hier wird er unter der Überschrift „Achtung, Baustelle!“ mit der Aussage zitiert, die Deutschen sollten Baustellen als Bestandteil der Autobahn begreifen, „insbesondere, weil jetzt auch die ganzen Talbrücken erneuert werden müssen.“ Inzwischen hatte Verkehrsminister Günther Krause bereits das „Größte Straßenbauprogramm der Nachkriegsgeschichte“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Der SPIEGEL berichtete darüber am 15.6.1992 unter dem Titel: „Zurück in die Steinzeit – Verkehrsminister Krause will die Bundesrepublik mit über 11 000 Kilometer neuer Straßen überziehen – vornehmlich im Westen“. Auch dieser Plan, der ebenfalls in einem Zeitraum von 15 Jahren verwirklicht werden sollte, ging sang- und klanglos unter.

Acht Jahre später folgte dann Schlag auf Schlag.

2000:  Bericht der Pällmann-Kommission: „Bis über das Jahr 2010 hinaus fehlen jährlich mindestens sieben Milliarden Mark, um den weiteren Verfall der Substanz zu stoppen.“ (dpa-Meldung vom 21.8.2000)

2001:  Die Regierung Schröder lässt in den Medien verbreiten, die deutschen Nachkriegsbrücken seien alle für den Lastverkehr zu schwach konzipiert worden. Hierbei hatte sich allerdings ein kleiner Irrtum eingeschlichen. Denn die deutschen Brücken wurden schon seit Juni 1952 für eine Last von 60 t gerechnet: Einführung der Brückenklasse 60, die 1985 auf 60/90 erhöht wurde (s. hierzu Seite 2, 3. Absatz). Das zulässige Gewicht eines LKW indes liegt europaweit bei 44 t.

2002:  In „Bild am Sonntag“ vom 9. 6. 2002 wird unter der Überschrift „Deutschlands Brücken bröckeln“, Wolfgang Börnsen MdB mit der Aussage zitiert: „Es ist unverantwortlich zu warten, bis die ersten Brücken gesperrt werden müssen oder es die ersten Toten gibt.“

2004:  Das BMV lehnt die Einführung längerer Lastwagen mit der Begründung ab: „Das größte Problem (sind) dabei die Brücken. Schließlich (sind) rund zwei Drittel der 37 000 Brücken (am Fernstraßennetz, d. U.) inzwischen über 25 Jahre alt und zumeist in schlechtem Zustand.“  (Südd. Zeitung vom 6. 8. 2004 unter „Handel fordert längere Lastwagen“)

Zwei Monate später tritt die DEKRA mit der Erkenntnis an die Öffentlichkeit: „Mehr als jede 10. Straßenbrücke müsste aus Sicherheitsgründen sofort gesperrt werden. Von den rund 120 000 Brücken in Deutschland (sind) 14.000 Brücken in extrem schlechtem Zustand.“  (dpa-Meldung vom 6. 10. 2004)

Es ist das Verdienst Ihres Verkehrsministers, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, dass dieser düstere Horizont wieder ein wenig aufgehellt wurde.  Vierzehn Monate nach der niederschmetternden Erkenntnis der DEKRA verkündete er im Februar – Heft 2006 von ADACmotorwelt, Seite 8: Die deutschen Brücken gehören zu den sichersten Bauwerken überhaupt. – Sie haben eine lange Nutzungsdauer. – Einsturzgefährdete Brücken können wir frühzeitig erkennen. Hier könnte man allenfalls einwenden, dass Herrn Tiefensees Verhältnis zur Realität etwas verbesserungsbedürftig sei, und sich über den Begriff „lange Nutzungsdauer“ trefflich streiten ließe. So sagte beispielsweise der amerikanische Ingenieur Arvid Grant bei der 50-Jahr-Feier der Golden Gate Bridge: Zwei Arten von Bauwerken hat die Menschheit immer für die Ewigkeit gebaut: die Tempel und die Brücken. Und der berühmte Professor Dischinger, Autor der Spannbetonvorschrift DIN 4227, billigte den Spannbetonbrücken eine „unbeschränkte Lebensdauer“ zu, die er mit „Ausschaltung der Haarrisse“ begründete. (Taschenbuch für Bauingenieure, Berlin 1948, Seite 1520f.)

Im Vergleich damit wirkt die „übliche Lebens- und Benutzungsdauer“ der Spannbetonbrücken nach dem deutschen Sonderweg von 30, 40 oder allenfalls 50 Jahren doch ein wenig mickrig.

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, erlauben Sie mir abschließend eine kleine Gegenüberstellung:

Da haben wir auf der einen Seite die unschädlichen Risse, die freundlicherweise die Zugspannungen abbauen und durch munteres Hin- und Herbewegen infolge von Verkehr und Sonnenbestrahlung kontinuierlich größer werden, wodurch sie sich zu vorzüglichen Einsturz-Frühwarnanlagen entwickeln. Einschränkend muss allerdings gesagt werden, dass die von der Regierung Kohl geplanten „Sicherungssysteme“ zur Weiterleitung der Rissdaten nur in 10 Brücken statt der hierfür vorgesehenen 10.000 eingebaut werden konnten – aus Kostengründen, wie die BAM erst vor kurzem verlauten ließ.

Auf der anderen Seite haben wir seit einigen Jahren sich ständig überbietende Hiobsbotschaften über den Zustand der Spannbetonbrücken. Eine der letzten erschien am 11.11.2006 in der „Mainpost“, die dem Thema fast eine ganze Seite widmete. Erlauben Sie mir hieraus einige Zitate: „Marode Brücken – Wirtschaftsverbände schlagen Alarm.“ – Verbände sehen den Wirtschaftsstandort bedroht.“ – „Jetzt gehen die im Schnitt 40 Jahre alten Spannbetonbauwerke reihenweise in die Knie.“

Kurz vorher brachte das „Main-Echo“ vom 1./2. 11.2006  einen Bericht mit dem Titel „Nach Studenten-Test muss Brücke erneuert werden. – Angehende Bauingenieure stellen ernste Mängel fest.“ Drei Studenten der Fachhochschule Würzburg – Schweinfurt hatten ein elektro-chemisches Verfahren getestet, mit dem Korrosionen am einbetonierten Stahl festgestellt werden können. Dabei ergab sich an der Döllbachtalbrücke an der A7 bei Fulda, dass das Bauwerk „sobald wie möglich abgerissen und erneuert (werden muss)“. Bei einer Bauwerksprüfung, die zuvor stattgefunden hatte, war der Zustand des Brückenträgers nicht beanstandet worden.

Da werden alte Erinnerungen wach, z.B. an das Urteil im Blasbachtalbrückenprozess, das im Frühjahr 1981 erging, und in dem Risse als Mängel definiert werden, die „den Korrosionsschutz der Bewehrung aufheben und schließlich den Einsturz der Brücke herbeiführen“ (s. Seite 3, 4. Absatz); aber auch an den denkwürdigen Vortrag des Brückenreferenten Standfuß auf dem Deutschen Betontag, der ebenfalls im Frühjahr 1981 stattfand, und in dem er klagte, dass man die Krankheiten der Brücken – die er liebevoll seine Patienten nannte – in ihrer ganzen Tragweite nur erkennen könne, wenn man sie öffne. (s. Seite 4, 3. Absatz).

Hier muss auch an jenen Professor Hohmann erinnert werden, seines Zeichens Materialforscher in Frankfurt, der schon vor Jahrzehnten die Formel prägte: Riss – Rost – Ruine. So lautete auch – mit dem Zusatz „Spannbetonbrücken“ – eine Kapitelüberschrift in dem Buch „Das Galilei-Syndrom“ von Armin Witt, das 1991 in der Erstauflage im Universitas-Verlag München erschien.

Lässt man sich die vorstehend aufgeführten Fakten ein wenig durch den Kopf gehen, dann kommt man zu dem Schluss:  Das Vorhandensein von Rissen in den Brücken genügt vollauf, um die Gewissheit zu haben, dass der Stahl im Inneren des Betons jene „Materialumwandlung“ vollzogen hat, die in der „Risikostudie Talbrücken“ neben den Rissen als „typischer Dauerhaftigkeitsschaden“ definiert wurde (s. S. 3 letzter Absatz). Weitere kostspielige Untersuchungen sind dadurch überflüssig. Das bedeutet aber auch, dass die Risse ihrem guten Ruf als Vorboten eines „Querschnittsversagens“ in weit höherem Maße gerecht wurden als bisher angenommen. (S. 2 unten und 3 oben)

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, ich möchte Ihnen nicht verhehlen, dass mich eine schwere Sorge umtreibt. Könnte es nicht passieren, dass jemand auf den Gedanken verfällt, zwischen den Rissen in den Brücken einerseits und den Meldungen über ihren desolaten Zustand andererseits einen Kausalzusammenhang herzustellen? Nicht etwa, dass Sie von den deutschen Medien Ungemach zu befürchten hätten. Die werden, wann immer sie wittern, es könnte bei den Parteien ans Eingemachte gehen, nicht nur von einer Beißhemmung, sondern auch von einer Denkstarre befallen. Aber es gibt in diesem unserem Lande auch eine ständig steigende Zahl von Bürgern, die der Politik misstrauisch gegenüberstehen. Wenn nun einer oder eine Gruppe von diesen plötzlich öffentlich behauptete, die Sache mit den unschädlichen und nützlichen Rissen in den deutschen Spannbetonbrücken sei nichts als grober Schwindel, dreiste Lüge und plumpe Fälschung der Wissenschaft; und die Ausführungen Ihres Verkehrsministers im Februar- Heft von ADACmotorwelt nichts anderes als der Versuch einer schamlosen Volksverdummung? Dann wären Sie – um ein derzeit sehr aktuelles Adjektiv zu benützen – in einer ziemlich prekären Situation, als Bundeskanzlerin, die vor einem Jahr schwor, dem Wohle des Volkes zu dienen, als Physikerin, die den ehernen Gesetzen der Wissenschaft verpflichtet ist – und als Pfarrerstochter, die sicherlich in Sachen christlich-abendländischer Werte einer gründlicheren Unterrichtung teilhaftig wurde als der deutsche Durchschnittsbürger.

Dem aber können Sie entgegenwirken, indem Sie unverzüglich die „Brückendaten“ offenlegen, in Sonderheit die Rissbreiten, die seit 1959 akribisch gemessen, aufgezeichnet, in Kategorien eingeteilt (s. ZTV-Riss 88, Seite 7) – und seit dieser Zeit geheim gehalten werden. Hier könnte man allenfalls bemängeln, dass diese Geheimhaltungspraxis der Forschung auf dem Gebiet des Spannbetonbrückenbaus ein wenig hinderlich war. Pedantische Leute könnten hier sogar einen gewissen Widerspruch zu der im Grundgesetz garantierten Freiheit von Forschung und Lehre (Art. 5 (3)) entdecken. Dies veranlasste den Bundesminister für Forschung und Technologie bereits 1986 in Bezug auf die Brückendaten zu folgender Erklärung: „Dem Datenschutz ist auf jeden Fall hohe Priorität beizumessen“, damit „Fehler und Missbrauch durch nicht sachkundige Personen (ausgeschlossen werden)“. Und an anderer Stelle: „Außerdem muss gewährleistet sein, dass Unbefugte keinen Zugriff zu den Daten haben können.“ (Spannbeton: Bewährung im Brückenbau, BMFT- Risiko- Sicherheitsforschung, Springer Verlag Berlin 1986, Seite 43 und 45).

Sie aber, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, gehören zweifellos zu den Befugten. Ihnen kann keiner den Zugang zu den Brückendaten verwehren. Ich bin zuversichtlich, Sie können anhand dieser Daten glasklar beweisen: Wo immer auch Risse schädlich und Vorboten des Ruins sein mögen, in den deutschen Spannbetonbrücken sind sie unschädlich, Freunde, weil sie die Zugspannungen abbauen, und als zuverlässige Vorboten des baldigen Einsturzes von unschätzbarem Wert. Anschließend sollten Sie nicht versäumen, den Wissenschaftlern, die die fabelhaften Erkenntnisse lieferten, die gebührende Anerkennung nicht länger zu verweigern.

In der Hoffnung, Ihnen mit meinem bescheidenen Rat ein wenig gedient zu haben, verbleibe ich

  mit freundlichen Grüßen

Marianne Schreck
 

PS:  Wie mitgeteilt entdeckte das BMV vor 30 Jahren die Risse in den deutschen Spannbetonbrücken als Heilmittel gegen zu hohe Zugspannungen. 14 Jahre später veröffentlichte das BMV einen Aufsatz von Professor König mit dem Titel „Die Sicherheit von Spannbetonbrücken“. Hier wird mitgeteilt: „Es bestehen überhaupt keine Ge fährdungen, wenn keine Risse im Beton vorhanden sind.“ Beide Auf sätze erschienen in Forschung Straßenbau und Straßenverkehrstechnik, herausgegeben vom Bundesminister für Verkehr, der eine in Heft 212/1976, der andere in Heft 590/1990, Seite 8.

Was den späteren Aufsatz betrifft, so handelt es sich hierbei doch wohl um die Zwangsvorstellung eines ewig Gestrigen, die denn auch bei den Betreibern des deutschen Sonderwegs im Spannbetonbrückenbau keinerlei Beachtung fand.     

            


[1] Leonhardt, Rissebeschränkung, Vorträge Betontag 1975, Seite 422 – 428 und 459 – 454, Verlag Deutscher Betonverein e.V. Wiesbaden

[2] T.Zichner (Doktorand von Professor König, damals Risse-Reparaturexperte des BMV), Temperaturunterschied infolge Witterungseinfluss…, Forschung Straßenbau und Straßenverkehrstechnik Heft 212 / 1976, herausgegeben vom Bundesminister für Verkehr, Seite 44


Kontakt: E-Mail: schreck@arminwitt.de


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